Das Mädchen mit dem Fingerhut – Michael Köhlmeier

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„Und schon schlief sie, und schon dämmerte sie wieder an die Oberfläche und schlief wieder und tauchte wieder auf, wie ein langes, langsames, glückliches Atmen.“

Erst geht es nur um eine „sie“, die sich mithilfe ihres Onkels durch die Straßen einer Großstadt schlägt. Jeden Tag geht sie zu Bogdans Stand auf dem Wochenmarkt, er wird ihr schon zu essen geben und dafür sorgen, dass sie nicht friert. Sie versteht Bogdans Sprache nicht, sobald das Wort Polizei aber fällt, bricht ihr Schweigen und sie schreit. Abends muss sie dann zum verabredeten Ort zurückkehren, dort wartet ihr Onkel auf sie. Später erfährt man, dass „sie“ noch „ein Kind“ ist. Das Kind wird im Stich gelassen, ihr Onkel taucht eines Tages nicht mehr am Treffpunkt auf. Also versucht es, ihren Onkel zu finden und verläuft sich in der Düsternis der Stadt.

Das Kind irrt von nun an einsam und verloren umher, hat noch Glück, dass die Menschen Mitleid mit ihm haben und ihm zu Essen geben. Denn das Kind ist klein, niedlich und auf Anhieb jedermanns Liebling. Dennoch ist es ein niemand, so genau interessiert sich keiner für das Kind. Diese Gleichgültigkeit schlägt sich in der Sprache von Das Mädchen mit dem Fingerhut von Michael Köhlmeier nieder: Das Kind hat keinen Namen, zunächst ist nur die Rede von „ihr“ oder „sie“, dann von „das Kind“. Erst als das Kind auf zwei Leidensgefährten trifft, zwei Jungs, die ebenfalls heimatlos sind, bekommt es einen Namen: Yiza, auch wenn sie nicht einmal sicher ist.

Mit den beiden Jungen Schamhan und Arian geht Yizas Odyssee durch die Welt weiter. Jeder Tag dreht sich nur um die nächste warme Mahlzeit und einem trockenen Platz zum Schlafen. Die älteste unter ihnen, Schamhan, übersetzt für Yiza und Arian, da er beide Sprachen spricht. Sie verlieren ihn jedoch, und die Sprachlosigkeit nimmt ihre Fortsetzung. Beide Kinder, Yiza und Arian, verstehen einander nicht, ebenso wenig wie die Welt um sie herum. Köhlmeier bricht auch hier wieder die Sprache bzw. die Sprachlosigkeit auf die Metaebene des Romans runter: Er verwendet gezielt wenig Wort, der Satzbau ist immer einfach gehalten, ausschmückende Wörter lässt er weg und beschreibt in einem nüchternen, sachlichen Ton.

Das Mädchen mit dem Fingerhut ist eine traurige Geschichte, die trotz ihrer Ernsthaftigkeit an ein Märchen erinnert. Welches Kind träumt nicht einmal davon, ganz auf sich alleine gestellt zu sein, ohne Erwachsene, die einem sagen, was man tun und lassen soll? Bewusst wollte Köhlmeier, wie er auf der diesjährige Leipziger Buchmesse sagte, mit dem Titel auf Hans Christian Andersens bekanntes Märchen Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern hinweisen. Die bittere Realität holt die Kinder jedoch schnell wieder aus dem Märchen zurück. Ob Yiza ebenfalls frierend den Tod findet, bleibt offen.

Köhlmeier veranschaulicht mit Das Mädchen mit dem Fingerhut den aktuellen Alltag vieler Flüchtlingskinder, der von Sprachbarrieren und Unverständnis der erwachsenen Welt geprägt ist. Trotz der einfach gehaltenen Sprache und wenigen Seiten weist er mit voller Wucht auf Probleme hin, von denen man gerne leicht glaubt, dass sie längst hinter einem liegen, dennoch da sind.

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Hanser. München 2016. 144 Seiten. 18,90 Euro.

Siehe auch: Leseschatz


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